Die USA sind gespalten, aber noch nicht zerbrochen

22. Oktober 2024

Mein Büroleiter Lars Denkena war auf Einladung der Berliner US-Botschaft für einen einwöchigen politischen Austausch in Wisconsin – einem der entscheidenden Swingstates der kommenden US-Präsidentschaftswahl. Hier veröffentliche ich seine Eindrücke als Gastbeitrag.

Der Wahlkampf um die US-Präsidentschaft 2024 ist schon jetzt historisch. Ende Juni stritten Joe Biden und Donald Trump im TV-Duell vor Millionen Zuschauern um ihr Golf-Handicap und die Welt fragte sich fassungslos: Geht es hier wirklich um das mächtigste Amt der Welt? Es folgten die Schüsse auf Trump, der beispiellose Rückzug von Biden und die Elektrisierung der Demokraten und vieler Unentschlossener Wähler durch Kamala Harris. Auf Einladung der Berliner US-Botschaft habe ich Mitte August mit einer fraktionsübergreifenden Gruppe eine Woche in Madison, Wisconsin verbracht. Das Programm „Beyond Washington – Understand the U.S. Heartland“ hat dabei zum Ziel, ein Bild der USA abseits der Ost- und Westküste zu vermitteln.

Wisconsin ist einer der entscheidenden Battleground States im US-Präsidentschaftswahlkampf. Es gibt kaum einen Weg die goldene Zahl von 270 Wahlleuten des „Electoral College“ zu erreichen, ohne die 10 Wahlleute aus Wisconsin für sich zu gewinnen. Während die großen Städte Madison und Milwaukee Heimat der Universitäten und verschiedener Techindustrien sind, bildet die Agrarindustrie auf dem Land das Rückgrat der Wirtschaft in Wisconsin. Nach Kalifornien ist Wisconsin der größte Milchproduzent unter den Bundesstaaten und der hiesige Käse gilt als Verkaufsschlager. Die ländlichen Gebiete wählen im Gegensatz zu den urbanen Räumen eher republikanisch. 2016 gewann hier Trump, 2020 Joe Biden. Mitte Oktober liegen Harris und Trump in den Umfragen in Wisconsin exakt gleich auf.

Die Woche in Madison war ein Marathon voller Termine mit NGOs, Umweltrechtler*innen, Bäuer*innen, Republikaner*innen, Demokrat*innen, der Bürgermeisterin von Madison und vielen weiteren politischen Gesprächspartner*innen. Wir waren auf einer Milchfarm, haben in einer Essensausgabe für Bedürftige geholfen und waren zum Abendessen bei einer Mittelschichtsfamilie aus Madison. Nach dieser Woche hat sich Eindruck durchgesetzt: Die USA sind tief gespalten, aber sie sind noch nicht zerbrochen. Denn die Demokratie lebt – im Großen wie im Kleinen. Zahllose Menschen kämpfen vor Ort gegen Wahlausschlüsse, gegen den Einfluss des Geldes auf Wahlen, für die Umwelt, gegen Armut und auch Republikaner sehnen sich in eine Zeit zurück, in der die politische Auseinandersetzung möglich war, ohne den politischen Gegner zu verurteilen, zu erniedrigen und zu bedrohen. Dies dürfte jedoch erst möglich sein, wenn die republikanische Partei den Make-America-Great-Again-Fängen des Donald Trump entflieht. Selbst ein ehemaliger republikanischer Abgeordneter offenbarte uns, dass er niemals Trump gewählt habe und dies auch niemals tun werde. Ebenso wurde klar: Die USA sind mehr als Washington D.C.. In der deutschen Berichterstattung nehmen wir meist die bundespolitischen Debatten und Feindseligkeiten in den Hochzeiten des Wahlkampfes wahr. Für viele Entscheidungen in der Politik vor Ort spielen die polarisierenden Wahlkampfthemen jedoch oft eine nachrangige Rolle. Da geht es vielmehr um die Fragen, die auch deutsche Kommunen und Städte bewegen: Wie schaffen wir bezahlbaren Wohnraum? Wie modernisieren wir unseren öffentlichen Nahverkehr? Wie schaffen wir ausreichend Kitaplätze? Wie passen wir uns an die Folgen des Klimawandels an?

Im Folgenden möchte ich auf drei Eindrücke aus der Woche genauer eingehen.

Lessons learned 1: Money makes the world go round

Geld und Politik haben in den USA eine außergewöhnlich enge Beziehung. So waren im vergangenen Kongress die Hälfte der Abgeordneten Millionär*innen, der Ex-Präsident Donald Trump ist gar Milliardär. Im letzten Wahlkampf um die Präsidentschaft im Jahr 2020 haben die Kampagnen von Biden und Trump insgesamt 5,7 Mrd. Dollar ausgegeben. Das Jahr 2010 markierte dabei einen Wendepunkt. Mit dem Urteil des Surpreme Court fielen faktisch alle Beschränkungen für Ausgaben von Unternehmen oder anderen Gruppen für Wahlkämpfe. Begründet hat der oberste Gerichtshof der USA dies mit dem heiligen Gral der Meinungsfreiheit, der eben keine Grenzen gesetzt dürften. Die schwindelerregenden Summen werden heute in sog. Super-PACs gesammelt, die nicht unmittelbar von einer Kampagne gesteuert werden, wohl aber assoziiert sind. Das Geld landet dann vor allem in der Werbung. Eine 5-minütige Werbeunterbrechung im lokalen Fernsehen in Madison war ein steter Wechsel zwischen Werbespot von Trump und Harris. Nur wenige Abgeordnete wie Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez verwehren sich den Millionen reicher Spender und versuchen durch Kleinstspenden ihre Wahlkämpfe zu finanzieren. Doch dies ist kein singuläres Phänomen der Bundesebene. Bei der Neubesetzung eines einzigen (und eigentlich nicht mal parteipolitischen) Platzes beim Obersten Gericht in Wisconsin gaben die Kandidat*innen 42 Mio. Dollar aus. Zum Vergleich: Die Ausgaben aller deutschen Parteien beim Wahlkampf 2021 beliefen sich auf rund 100 Mio. Euro. Als Siegerin aus der Wahl ging Janet Protasiewicz hervor, die von den US-Demokraten unterstützt wurde und dafür sorgte, dass die Mehrheit im Gericht kippte. In dieser Folge wurde unter anderem der Zuschnitt der Wahlbezirke vor dem Obersten Gericht zu Fall gebracht. Auch deshalb hatte dieser eine Platz am Obersten Gericht eine solch maßgebliche und sogar bundespolitische Bedeutung. Wir haben mit Nick Ramos von der Wisconsin Democracy Campaign gesprochen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Einfluss von Großspenden zu bekämpften. Ihr zentrales Mittel ist dafür Transparenz. Sie zeigen, wer wie viele Spenden angenommen hat, wie Interessensgruppen mithilfe von Spenden Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, wo verdeckt Gelder fließen. Und sie lobbyieren für strengere Gesetze und eine öffentliche Finanzierung von Wahlkämpfen abseits von Großspenden. In den vergangenen Jahren konnten sie eine Reihe von Fällen in die breite Öffentlichkeit ziehen, doch mitunter ist ihre Arbeit ein Kampf gegen Windmühlen.

Lessons learned 2: How Democracies die

Das bröckelnde Vertrauen in demokratische Institutionen ist eine Entwicklung, die wir in verschiedenen liberalen Demokratien beobachten. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: Die hohe Komplexität politischer Entscheidungsprozesse in einer interdependenten Welt, die Verächtlichmachung des politischen Kompromisses, der trügerische Blick auf vermeintliche effiziente, autokratische Regime wie China, die Segmentierung unseres Medienkonsums und der Einfluss sozialer Medien. In den USA kommen zwei wesentliche Faktoren hinzu:
Erstens, der parteipolitisch motivierte Zuschnitt der Wahlbezirke („Gerrymandering“), der verhindert, dass Wahlbezirke wirklich kompetitiv sind. Das Gerrymandering, welches in dieser Form nur in Mehrheitswahlsystemen möglich ist, wird seit den frühen 2000er Jahren immer stärker angewandt. In Wisconsin fand der letzte Zuschnitt der Wahlbezirke im Jahr 2011 statt – mit einer exzessiven Nutzung des Gerrymandering. Das Ergebnis lässt sich Wisconsin leicht ablesen: Seit 2011 haben die Republikaner in beiden Kammern der Legislative ununterbrochen die Mehrheit – wohl gemerkt in einem Swing State, dessen Wähler*innenschaft sich rund hälftig aus Demokrat*innen und Republikaner*innen zusammensetzt und aktuell von einem demokratischen Gouverneur regiert wird.
Zweitens, das Infragestellen von Wahlergebnissen. Die Ruchlosigkeit, mit der Donald Trump die Ergebnisse der Wahl 2020 in Frage gestellt hat, führte letztlich zum Sturm auf das Kapitol und kostete fünf Menschen ihr Leben. Das Agieren von Trump und die Verbreitung von Desinformation und Misinformation in den Sozialen Medien („flood the zone with shit“ – Steve Bannon) hat Spuren hinterlassen. Immer mehr Menschen ziehen in Zweifel, dass die Wahlen in den USA frei, offen und fair sind. Doch wenn das Vertrauen in die Wahlen schwindet, stirbt auch das Vertrauen in die Demokratie selbst. Die Organisation „Keep our Republic“ versucht in Wisconsin durch Transparenz und Aufklärung im Gespräch mit lokalen Entscheidungsträger*innen und Bürger*innen genau dieses Vertrauen in den Wahlprozess wieder aufzubauen und zu stärken. Sie verfolgen dabei zwei Strategien: Den Wahlprozess so transparent wie möglich zu machen und dies über lokal anerkannte Autoritäten (Bürgermeister*innen, Unternehmer*innen,..) in die Breite zu transportieren. Leider beobachten wir bereits jetzt, dass Donald Trump die Grundlage legt, um die Legitimität des Wahlergebnisses im November wieder in Frage zu stellen. Natürlich nur, wenn ihm das Ergebnis nicht passen sollte.

Lessons learned 3: It’s economy the, stupid!

Der Wahlkampfslogan „It’s the economy, stupid!“ von Bill Clinton ist auch 32 Jahre später noch aktuell. Die Inflationsrate in den USA hatte im Juni 2022 ihren Höhepunkt erreicht: 9,1 Prozent. Seitdem ist sie Monat für Monat gesunken und liegt inzwischen knapp über 2 Prozent. Um zu verstehen, was diese Zahlen in der Realität bedeuten, reicht ein Besuch im Supermarkt. Ein Packung Müsli kostet 4 Dollar, ein Big Mac 5,89 Dollar, ein Liter Milch 1,29 Dollar, eine kleine Flasche Cola 1,39 Dollar. Wer sieht, wer bei der Essensausgabe „The River“ in Madison vorfährt, bekommt eine klare Vorstellung davon, dass die Herausforderung die eigene Familie zu ernähren, bis in die untere Mittelschicht hereinreicht. Wenn ein Job wegfällt, die Preise durch die Decke gehen und der Immobilienkredit trotzdem bedient werden muss, wird der Lebensmitteleinkauf schnell zur großen Hürde. Auch weil das soziale Sicherheitsnetz in den USA deutlich weniger auffängt als in Deutschland oder anderen europäischen Ländern. In Gesprächen mit Bürger*innen in Madison wurde deutlich: Die Bedeutung der individuellen ökonomischen Situation kann für die Wahlentscheidung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gerade Menschen in der Mitte des politischen Spektrums, die unideologisch sind, identitäre Fragen herzlich wenig interessieren und eher rational auf ihre persönliche Lage schauen, wird dies wahlentscheidend sein. So sagte eine Frau zu mir: „Ich kann Trump nicht ausstehen, aber ökonomisch ging es mir besser als er Präsident war. Die Preise im täglichen Leben waren niedriger, die Aktienkurse standen höher“. Interessanterweise hält letzteres mit Blick auf die Entwicklung des Dow Jones nicht der Realität stand und dennoch sitzt das Gefühl, dass es unter Joe Biden ökonomisch bergab und nicht bergauf ging, tief. Auch Kamala Harris versucht in ihrer Kampagne mit klaren Entlastungsbotschaften die Themen Wirtschaft und Preisentwicklung zu besetzen. Und so gilt, was Bill Clinton schon vor über 30 Jahren wusste: It’s the economy, stupid!

Lessons learned?

Die US-Demokratie steht vor riesigen Herausforderungen, die Bedrohung durch Demokratiefeinde von innen und außen war noch nie so groß. Die Gesellschaft wird immer ungleicher, Menschen tauchen in Echokammern ab, weite Teil der Bevölkerung sind zutiefst entnervt von langwierigen politischen Prozessen und vom Einfluss von Geld auf politische Entscheidungen. All dies hat tiefe Gräben in der amerikanischen Gesellschaft hinterlassen. Ja, die USA sind gespalten, aber sie sind noch nicht zerbrochen. Und ihr internationaler Einfluss, nicht nur geopolitisch, ist ungebrochen. Nachdem Harris den Staffelstab von Biden übernahm und ein echtes Feuer entfachte, liefen die Kommentarspalten in deutschen Zeitungen über vor Begeisterung und fast alle Parteien in Deutschland fragten: Was können wir davon kopieren? Wer ist unsere Kamala Harris? Wer ist unser Coach Walz? Ist die AfD auch weird?
In Wisconsin ließ sich im Kleinen beobachten, dass die Demokratie und die Zivilgesellschaft in den USA lebendig sind. Wir sprachen mit den vielen engagierten Menschen, die für eine offene, gerechtere und liberale Demokratie eintreten. Menschen, die nicht scheuen, die Mängel der Demokratie, die soziale Lage von Menschen und die gesellschaftlichen Risse im Land zu problematisieren, aber dennoch den Kern der Republik verteidigen. Ein Spagat, der nicht immer einfach ist, wenn Demokratiefeinde im Inneren lauern und doch notwendig, um das Vertrauen in die Demokratie zu erhalten. Wahrscheinlich sind sie es gerade, die dieses Land noch vor dem Bruch bewahren.