9. Altenbericht mit Fokus auf Vielfalt im Alter erschienen
Finanzierung des „Dachverbands Lesben und Alter“ und der „Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS)“ gesichert
Heute wurde der Neunte Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland „Alt werden in Deutschland – Vielfalt der Potenziale und Ungleichheit der Teilhabechancen“ (kurz: 9. Altersbericht) im Kabinett beschlossen. Der Schwerpunkt des neuen Berichts ist die Vielfalt der Lebenssituationen und die Teilhabemöglichkeiten von älteren Menschen. Im Kapitel „Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Alter“ beschreiben die Sachverständigen der Neunten Altersberichtskommission auch die Situation von älteren Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie andere queere Menschen (LSBTIQ*) und formulieren Handlungsempfehlungen an die Politik.
Die Bundesregierung hat zu den Ergebnissen und Forderungen der Kommission Stellung genommen und ihre Aktivitäten dargestellt, um auch älteren LSBTIQ* ein gleichberechtigtes, offenes und selbstbestimmtes Leben im Alter und ein gutes Altern zu ermöglichen.
Dazu erklärt Sven Lehmann, Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt (Queer-Beauftragter):
„Die Sachverständigenkommission des Neunten Altenberichts empfiehlt eine diversitätssensible Gestaltung von Altenhilfe und Altenpflege, die die Biographien und Bedürfnisse von älteren LSBTIQ* berücksichtigt und einer Diskriminierung älterer Menschen aufgrund von sexueller und geschlechtlicher Identität aktiv entgegenwirkt. Dazu trägt die langjährige Förderung des „Dachverbands Lesben und Alter“ und der „Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS)“ durch das BMFSFJ bei. Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, beide Verbände weiterhin im Bundesaltenplan finanziell abzusichern und es sogar möglich war, die Unterstützung zu verstärken. Damit ist die wichtige und wertvolle Arbeit der beiden Träger gesichert.
Ältere LSBTIQ* sind in einer Zeit aufgewachsen, die gekennzeichnet war von strafrechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Stigmatisierung, von staatlicher Repression und Diskriminierung. Es ist auch die Generation, die sich unter großen Risiken gewehrt und den Weg bereitet hat für eine Gesellschaft, in der LSBTIQ* sichtbar und selbstbewusst sein können, immer selbstverständlicher und gleichberechtigter leben und gesellschaftlich wie rechtlich zunehmend anerkannt wurden und werden. Der Neunte Altenbericht betont, dass neben der Erfahrung politischer Emanzipation und positiver Veränderungen die Zeit der Verfolgung und Unterdrückung dennoch ihre Spuren hinterlassen – als Brüche, Verluste und durchaus traumatische Erfahrungen in den Lebensläufen vieler älterer LSBTIQ*.
Die Zeit der Stigmatisierung und Pathologisierung wirkt nach. Sie schlägt sich nieder in einem Misstrauen gegenüber den traditionellen Strukturen der Altenhilfe -und Altenpflege und Gesundheitseinrichtungen. Ältere LSBTIQ* fürchten, sich in Altenheimen verstecken zu müssen. Sie haben Angst wieder abgelehnt und ausgegrenzt zu werden, wenn sie sich nicht mehr wehren können. Sie fürchten den Verlust von Selbstbestimmung, Sichtbarkeit und Identität, den Verlust all dessen, wofür sie ein Leben lang gekämpft haben. Eine Sensibilisierung u.a. von Fachpersonal in Bezug auf ältere LSBTIQ* schafft eine Atmosphäre der Akzeptanz und wirkt Ausgrenzung, Diskriminierung und Einsamkeit von LSBTIQ* entgegen.“
Hintergrund
Die Aufnahme der Belange von LSBTIQ* in den Altersbericht sowie die Berücksichtigung der spezifischen Bedarfe älterer LSBTIQ* im Bundesaltenplan wurden im Aktionsplan „Queer leben“ der Bundesregierung vereinbart. Mit einem im Dezember 2024 verabschiedeten Bericht informiert die Bundesregierung über den Stand der Umsetzung des Aktionsplans „Queer leben“.
Ziele des neuen Projekts „Netzwerke und Sichtbarkeit älterer Lesben stärken, Teilhabe ermöglichen und Nachteile ausgleichen“ vom Dachverband Lesben und Alter sind das Hinwirken auf diskriminierungsfreie Lebensverhältnisse, verbesserte Teilhabechancen und stärkere Sichtbarkeit älterer Lesben. Eine starke Interessenvertretung für ältere und alte lesbische Frauen soll die intersektionale Mehrfachbenachteiligung kompensieren und die Öffentlichkeit für die Anliegen älterer lesbischer Frauen sensibilisieren. Die Weiterentwicklung bestehender Strategien und Maßnahmen zu einer bedarfsgerechten und zukunftsorientierten Angebotsgestaltung der Senior*innenarbeit und von Versorgungsstrukturen sowie der politischen Partizipation älterer schwuler Männer und Menschen mit HIV verfolgt die Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS) mit dem Projekt „Bundesweites Empowerment von lokalen und regionalen Strukturen der LSBTIQ*-Community, Akteur:innen der Seniorenarbeit und der Politik zur Initiierung und Weiterentwicklung bedarfsgerechter Angebote zur Ermöglichung von aktiver gesellschaftlicher Teilhabe und politischer Partizipation älterer schwuler Männer, Menschen mit HIV und perspektivisch schwulen trans*- und inter*-geschlechtlichen Menschen“.
Der Neunte Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Kapitel 8 „Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Alter“ (S. 173-200)
wird in den nächsten Tagen veröffentlicht und kann hier vorbestellt werden: Die Kurzbroschüre steht hier zum Download bereit. www.bmfsfj.de/altersbericht-kurzfassung <>
Passage „Offen und selbstbestimmt leben – LSBTIQ* im Alter“ in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Neunten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland:
„Vielfalt in der Gesellschaft bereichert alle. Alle Menschen sollen gleichberechtigt, frei, sicher und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben. Die Bundesregierung sieht sich in der Verantwortung für eine aktive Politik gegen Diskriminierung (Empfehlung 17) und hat erstmalig einen ressortübergreifenden Aktionsplan für die Akzeptanz und den Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt (Aktionsplan „Queer leben“) verabschiedet. Mit dem Aktionsplan hat sich die Bundesregierung unter anderem vorgenommen, die spezifischen Bedürfnisse von älteren LSBTIQ* nachhaltig zu verbessern. Im Rahmen des Aktionsplans fand ein umfangreicher Beteiligungsprozess mit der Zivilgesellschaft in Arbeitsgruppen statt. Darunter auch eine Arbeitsgruppe zum Themenfeld „Ältere LSBTIQ* und Altenhilfe“. Das Ziel der Sensibilisierung unter anderem von Fachpersonal in Bezug auf ältere LSBTIQ* schafft Akzeptanz und wirkt Ausgrenzung, Diskriminierung und Einsamkeit von LSBTIQ* entgegen. Ein weiteres Ziel ist die Unterstützung und Förderung von speziellen Angeboten für ältere LSBTIQ*. Die Arbeitsgruppe hat ein Empfehlungspapier verabschiedet und den zuständigen Bundesressorts zur Verfügung gestellt, um sie bei der Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen mit konkreten Vorschlägen zu unterstützen. Die Bundesregierung informierte den Deutschen Bundestag und den Bundesrat im Jahr 2024 über den Stand der Umsetzung dieses Aktionsplans.
Wie die Sachverständigenkommission feststellt, leben wir in einem Land, in dem es immense Fortschritte bei der rechtlichen Gleichstellung von LSBTIQ* gab. So ist, ganz aktuell, am 1. November 2024 das Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG), das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, in Kraft getreten. Das SBGG stellt die rechtliche Anerkennung von transgeschlechtlichen, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen auf eine gänzlich neue Grundlage. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz wird es ihnen ermöglicht, ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister durch eine einfache Erklärung beim Standesamt zu ändern – ohne psychiatrische Gutachten, ärztliche Atteste und Gerichtsverfahren, wie sie das in wesentlichen Teilen verfassungswidrige Transsexuellengesetz (TSG) vorsah, das damit nach über vierzig Jahren abgeschafft wurde. Es ist davon auszugehen, dass von der vereinfachten Möglichkeit den Geschlechtseintrag per Selbstauskunft zu ändern, auch ältere Menschen Gebrauch machen werden, die aufgrund der bisher hohen Hürden davon abgesehen hatten.
Dennoch ist anzuerkennen, dass gerade ältere LSBTIQ* die Zeit der Strafverfolgung nach § 175 StGB und § 151 StGB-DDR, der Pathologisierung nicht-heteronormativen Begehrens und Seins, der menschenrechtsverletzenden Auswirkungen des TSG sowie der massiven 30 gesellschaftlichen Ächtung und Stigmatisierung als prägend erlebt haben. Zudem gibt es bis heute Diskriminierungen und LSBTIQ*-feindliche Gewalt. Die Bundesregierung teilt die Einschätzung der Sachverständigenkommission, dass sich diese kollektiven Erfahrungen in einem Misstrauen und großer Unsicherheit gegenüber den traditionellen Strukturen der Altenhilfe und Altenpflege niederschlägt. Dem muss mit einer aktiven Kultur der Antidiskriminierung und einer sichtbar offenen Willkommenskultur, die als Bestandteil diversitätssensibler Altenhilfe und Altenhilfestrukturen verstanden wird, entgegengewirkt werden.
Entsprechend sind gut funktionierende Netzwerke und starke Interessensvertretungen für Unterstützung und Rückhalt essentiell. Das BMFSFJ stärkt diese beispielsweise mit der projektbezogenen Förderung der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren e. V. und des Dachverbandes Lesben und Alter e. V. Die Projekte initiieren durch gezielte Aktivitäten bedarfsgerechte Angebote zur aktiven gesellschaftlichen Teilhabe und politischen Partizipation, ermöglichen intergenerationale Orte der Begegnung und entwickeln diese weiter. Zugleich sollen die Belange älterer LSBTIQ* in Politik und kommunaler Altenhilfe berücksichtigt und die politische Partizipation im Alter und der Zugang zu Angeboten der Altenhilfearbeit langfristig verbessert werden.
Die Sachverständigenkommission empfiehlt, nicht verausgabte Mittel für Entschädigungsleistungen nach dem Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StrRehaHomG) zur Förderung von LSBTIQ*-Selbstvertretungen, der Erinnerungskultur und 15 einer diversitätssensiblen Altenhilfe zu nutzen (Empfehlung 21). Es ist korrekt, dass nur ein Teil der hierfür eingestellten Mittel abgerufen wird. Es besteht jedoch kein Entschädigungsfonds im technischen Sinne, in dem nicht verausgabte Mittel verwahrt werden und über die Jahre weiterhin zur Verfügung stehen. Dem Bundesministerium der Justiz (BMJ) werden für die Geltungsdauer des Gesetzes und der Richtlinie jährlich Haushaltsmittel bewilligt 20 (Kapitel 0718 Titel 681 03). Werden diese im jeweiligen Haushaltsjahr nicht abgerufen, fließen sie zurück in den Bundeshaushalt und stehen dem BMJ nicht mehr zur Verfügung.
Die Sachverständigenkommission stellt fest, dass LSBTIQ* in der zweiten Lebenshälfte aufgrund ihrer Lebensumstände im Vergleich zu anderen älteren und hochaltrigen Personen tendenziell stärker abhängig von formalen Leistungen der Altenhilfe und Pflege sind. 25 Entsprechend wichtig sei die diversitätssensible Gestaltung von Altenhilfe und Altenhilfestrukturen (Empfehlung 19). Die Diskriminierung älterer Menschen aufgrund von sexueller und geschlechtlicher Identität sollte verhindert (Empfehlung 17) und Versorgungsnachteile einzelner Gruppen älterer Menschen im Gesundheitswesen abgebaut werden (Empfehlung 18).
Für den Bereich der Pflege wird daher angeregt, bereits während der Ausbildung das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer diversity-kompetenten Kommunikation bei den angehenden Fachkräften zu schaffen (Empfehlung 18). Auch für den Bereich der Altenhilfe wird eine diversitätssensible Gestaltung der Angebote und Leistungen gefordert (Empfehlung 19).
Die Rahmenpläne der Fachkommission nach § 53 Pflegeberufegesetz sehen für die berufliche Pflegeausbildung explizit die Vermittlung von Kompetenzen einer diversitätssensiblen Biographiearbeit (Empfehlung 17) sowie der Unterstützung bei einer diversitätssensiblen Lebensgestaltung auf der Basis von konzeptionellen Ansätzen der Intersektionalität und einer Diversity-Pflege vor (Empfehlung 18). Aus der Ausbildungspraxis liegen keine Hinweise von Seiten der Länder oder der Einrichtungsträger auf Probleme bei der Umsetzung der Rahmenpläne vor. Die Arbeitsgruppe „Ältere LSBTIQ* und Altenhilfe“ hat in ihrem Empfehlungspapier zur Umsetzung von Maßnahmen aus dem Aktionsplan „Queer leben“ eine Vielzahl von konkreten Vorschlägen unterbreitet, um Pflegeeinrichtungen und deren Träger zu stärken sowie vorhandene Pflegekonzepte weiterzuentwickeln. Ferner ist in den Grundsätzen der sozialen Pflegeversicherung festgelegt, dass den Wünschen der pflegebedürftigen Menschen, soweit sie angemessen sind, im Rahmen des Leistungsrechts entsprochen werden soll. So haben beispielsweise auch Wünsche der Pflegebedürftigen nach gleichgeschlechtlicher Pflege nach Möglichkeit Berücksichtigung zu finden.
Insbesondere die Empfehlung 20 der Sachverständigenkommission innerhalb der diversen LSBTIQ*-Communities intergenerationale Orte der Begegnung zu schaffen, verdient Beachtung. Die im Sachverständigenbericht zum Teil auch empirisch unterlegte Altersdiskriminierung in den Communities zu adressieren, ist ein wichtiges Anliegen, das zuvörderst in den Communities selbst aufgegriffen werden muss. Die Bundesregierung wird den Austausch mit LSBTIQ*-Selbsthilfeorganisationen suchen, um hier sinnvolle Unterstützungsangebote auszuloten.“