150 Jahre Thomas Mann Grußwort bei der Tagung der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft, Lübeck im Juni 2025

6. Juni 2025

150 Jahre Thomas Mann

Tagung der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft, Lübeck im Juni 2025

Grußwort von Sven Lehmann MdB

Vorsitzender des Ausschusses für Kultur & Medien im Deutschen Bundestag

 

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Wißkirchen,

sehr geehrte Damen und Herren, liebe Anwesende,

liebes Team der Deutschen Thomas Mann- Gesellschaft,

 

ich bedanke mich aufrichtig für die Gelegenheit, einige Worte an Sie zu richten, als Vorsitzender des Kulturausschusses im Deutschen Bundestag, als Mitglied der Thomas Mann-Gesellschaft, als jemand, der – wie Sie alle – eine große Leidenschaft hegt für den großen Schriftsteller, den wir alle so verehren.

Ich hatte das große Glück, dass ich bereits in der Schule mit den Romanen und Erzählungen von Thomas Mann in Berührung kam. Mit den Buddenbrooks, natürlich. Ihnen verdanke ich mein Abitur im Deutsch-LK. Mit dem Zauberberg, mit dem Tod in Venedig, mit Tonio Kröger.

Was mich schon damals, als junger Schüler, fasziniert hat, das war die sprachliche Brillanz, die aufwendige Komposition der Texte, die Vielschichtigkeit der Persönlichkeiten, die thematische Breite der Stoffe.

Gerade in den letzten Jahren wurde meine Leidenschaft neu entfacht – nämlich über den Zugang zu Thomas Mann über seine Familie. Vermutlich ausgelöst durch Breloers Film „Die Manns – ein Jahrhundertroman“, über die Beschäftigung mit Erika und Klaus, mit Golo, mit Elisabeth und natürlich mit Katia Mann. Über die Einflüsse seines Vaters und natürlich seiner Mutter Julia da Silva Bruhns, über seine wechselhafte Bruder-Beziehung mit Heinrich, natürlich auch über den starken Einfluss von Hedwig und Alfred Pringsheim.

Zu verstehen, dass Thomas Mann nicht nur ein außergewöhnlicher Schriftsteller war, sondern auch Sohn, Bruder, Vater, Großvater, Ehemann und Schwiegersohn; das zu verstehen hat mir persönlich einen neuen Zugang zu seinem Werk und Leben ermöglicht. Nämlich den Zugang zu Thomas Mann als Mensch. Als Künstler, natürlich. Aber auch als Mensch.

Als Mensch mit scheinbaren Widersprüchen. Widersprüche, die aber – zusammengenommen – auch wiederum ein Gesamt-Kunstwerk ergeben.

Wie oft neigen wir dazu, Menschen mit einem Etikett zu versehen, um sie leichter fassen zu können. Wie oft entzieht sich der Mensch aber genau dieser Etikettierung? Und wie oft ist diskutiert worden, ob Thomas Mann nun politisch konservativ oder radikal-demokratisch war? Ob er nun ein Familien-Tyrann oder liebevoller Familienvater war? Ob treuer Ehemann in einer fast symbiotischen Beziehung mit seiner Frau oder unterdrückt homosexuell mit seiner bürgerlichen Familie als bloß äußere Fassade?

Ich glaube, dass es als Antworten auf diesen Fragen keine objektiven Wahrheiten gibt, sondern dass objektiv wahr nur eines ist: Thomas Mann war – wie sein Werk – von außerordentlicher Vielschichtigkeit. Ich möchte das an drei Beispielen festmachen:

Erstens: Marcel Reich-Ranicki sagte über Breloers Film, dieses Werk habe Thomas Mann „gezähmt“. Nun wissen wir, dass seine Liebe und Zuneigung und sein Zutrauen gegenüber seinen Kindern sehr ungleich verteilt waren. Aber können sich davon generell Eltern überhaupt freimachen? Fakt ist, dass die teils spannungsgeladenen, teils sehr starken Beziehungen zu seinen Kindern wiederum sehr viel geistige Produktivität hervorgebracht haben.

Zweitens: Thomas Manns politische Einstellung. Wir wissen um seine Nationalismen und seine Kriegsbegeisterung während des Erstens Weltkriegs. Wir wissen um seine Treue und fast Unterwerfung unter die Anforderungen der strengen preußisch-wilhelminischen Gesellschaft. Wir wissen um das Zerwürfnis mit Heinrich. Wir wissen aber auch um die Reflexion, die Hinwendung zur Demokratie, das leidenschaftliche Eintreten für die Weimarer Verfassung und den furchtlosen, erbitterten Kampf gegen den aufkommenden Faschismus in Deutschland. Und wir kennen seine Exil-Schriften. Seine Radio-Ansprachen „Deutsche Hörer!“ während des Zweiten Weltkriegs lesen sich auch heute wieder wie eine konsequente Mahnung gegen Faschismus und Menschenfeindlichkeit.

Drittens: Thomas Manns eigenes Begehren. Ich freue mich sehr, dass gerade neuere Publikationen in letzter Zeit sich intensiv mit diesem wichtigen Aspekt seines Lebens befasst haben, etwa die neuen Bücher von Heinrich Breloer, Oliver Fischer oder Tilmann Lahme. Fakt ist, dass wir dem gleichgeschlechtlichen Begehren so wichtige literarische Figuren wie Tadzio aus dem Tod in Venedig oder wunderbar erotische Szenen wie die der Madame Houpfé im Felix Krull zu verdanken haben. Thomas Mann konnte über Literatur ausleben, was die strenge Sexualmoral des frühen 20. Jahrhunderts ihm nicht erlaubte oder was er glaubte, dass es ihm nicht erlaubt sei. Seine Entscheidung für ein heteronormatives, bürgerliches Leben, sein unbedingtes Werben für Katia Pringsheim, seine Rolle als Familienvater sind kein Widerspruch zu dieser Seite seiner Persönlichkeit, sondern machen seine Persönlichkeit erneut so vielschichtig.

Diese Vielschichtigkeiten – und noch viele mehr – machen Thomas Mann bis heute zu einem Faszinosum. Und sein Werk zu einem Werk für die Ewigkeit.

Thomas Mann hat während seiner langen schöpferischen Tätigkeit gezeigt, dass sich Begeisterung für die deutsche Sprache und Kultur und kosmopolitisches Denken und Handeln nicht ausschließen müssen, im Gegenteil. Von dieser Haltung können wir viel für gegenwärtige gesellschaftliche Auseinandersetzungen lernen.

Herzliche Glückwünsche zu 150 Jahren Thomas Mann, möge sein geistige Erbe wachgehalten werden!